Aus dem Lebens eines Kradmelders
Hitler, „Das Motorrad“ und mein Vater – eine Geschichte zum II. Weltkrieg.
Gastbeitrag von Michael Grüter | Berlin
Vor anderthalb Jahren ist den Berliner Wampen per Post ein Klotz vor die Füße gefallen: 34 cm lang, 25 cm hoch und 15 cm breit, 6,3 Kilo schwer. 118 Hefte der Zeitschrift „Das Motorrad“ aus den ersten Jahren des Zweiten Weltkrieges, gefasst in nicht komplette Jahresbände 1939, 1940, 1941.
Die Absenderin des Pakets hatte die Bücher sicher in steifem, grauem Karton verpackt und dreifach verklebt. Vor allem aber hat sie den Adressaten mit Bedacht gewählt und die Hefte an einen Club jenes Verbandes von Motorradfahrerinnen gesandt, der für seine antifaschistische Ausrichtung bekannt ist. Der MC Kuhle Wampe, so mag sie vertrauen, kann mit dem Kram am besten umgehen.
Den Faschismus souverän beschweigen?
Auf gut 3000 vergilbten Seiten finden sich neben technischen Abhandlungen amüsante Betrachtungen über die Tücke und den Großmut des Objekts, auch prächtige Reisereportagen, jedoch zunehmend durchsetzt mit deutschem Dünkel, Kriegshetze und Glorifizierung der Schandtaten des Dritten Reiches. In näherer Lektüre ist zu studieren, wie eine einst seriöse Zeitschrift ihre Schamgrenzen verliert und durch Propaganda zum Teil der faschistischen Kriegsmaschine wird. Was also tun mit dem historischen Sondermüll: Ihn souverän beschweigen? Den Faschismus erneut als bürgerliche Herrschaftsform terroristischer Art entlarven? Die Bände auf Anekdotisches hin plündern? In Technik-Geschichte schwelgen?
Mein Interesse
Ich nähere mich dem Konvolut mit persönlichem Interesse.
Sonnenheiße Sonnabende Ende der 1960er Jahre in der Provinz. In der verschatteten Garageneinfahrt nimmt sich mein Vater meines Mopeds an. Auch in der Hoffnung, seinem Jungen bei der Schrauberei näher zu kommen, so wie das früher beim Bau von Flugmodellen gelungen war. Für den Sohn verrinnt die Zeit stetig tropfend, nur von Zurufen unterbrochen: „Den 10er Maulschlüssel“, „Halt mal die Schraube“, „Wo ist der Seitenschneider?“ Die Rollenverteilung, er Chef, ich Handlanger, der nichts durfte und nichts konnte, passte nicht mehr. Wenn es gut lief, war das Schrauben für mich eine Übung in Geduld. Lief es schlecht, trieb mich Georg, wie wir Kinder ihn damals zu nennen begannen, so zur Weißglut.
Wie Motoren verlässlich wieder zum Leben zu erwecken sind, hatte Georg weder seiner Kaufmannslehre gelernt noch von zu Hause mitbekommen. Doch in vier Jahren als Kradmelder im Krieg war diese Fähigkeit für ihn zu einer Frage des Überlebens geworden. Aus dieser Zeit stammt vielleicht auch seine Angewohnheit, alles selber zu machen. Wenn etwas vermurkst worden wäre, hätte er es auch selber ausbaden müssen.
Wer bei Ansicht eines Hakenkreuzes dazu neigt, Pickel zu kriegen, wird die „Motorrad“-Hefte des Jahres 1939 nicht gelassen betrachten. Am 25. Februar erscheint ein Sonderheft zur Internationalen Automobil und Motorradausstellung in Berlin. Reichskanzler Hitler wird gleich auf der zweiten Seite beim Essen mit Industrieführern ins Bild gerückt. Es folgt eine Doppel-Fotoseite, auf der sich „der Führer“ drei Mal abgelichtet findet. Über 20 Hakenkreuze sind auf drei Seiten erkennbar. Ein Wunder, dass die Räder der Fahrzeuge noch rund bleiben durften.
„Der Führer“: drei Mal abgelichtet
Hitler verordnete den Herstellern ein Schrumpfen der Modellpalette, um im geplanten Krieg die Ersatzteilfrage zu entspannen. Der Chefredakteur der „Motorrad“ fand das prima, wie er im Editorial „weniger ist mehr“ verriet. Den düsteren Hintergrund der Entscheidung, Hitlers Eroberungspläne, benannte er nur verhüllend: „Wir wollen mehr erreichen, als andere“.
Wer den „politischen Auftakt“ überblättert, findet im Heft eine Reihe von ingenieurwissenschaftlichen Artikeln über neue Motoren samt detaillierter Skizzen. Drei Seiten sind dem Schleifen von Ventilen gewidmet, nicht ohne den Hinweis: „. . . Fortsetzung folgt“. Im Technischen Briefkasten wird aufs Genaueste Auskunft erteilt, woran es liegen kann, dass die baugleiche „Ardie“ der Freundin schneller als die eigene läuft, und vor allem, wie Abhilfe zu schaffen sei. Oder, ob sich an eine ältere DKW eine Hirafe, Hinterradfederung, einbauen lässt. Bis zu elf Seiten pro Ausgabe räumt die Redaktion hierfür ein.
Vom Kampf mit Wind und Wetter erzählen Autoren in den letzten Friedensmonaten so anschaulich, dass die Lektüre noch 75 Jahre später Freude bereitet. Von einer „Fahrt in den Vorfrühling“ ist da zu lesen, wie über dem Gutachtal im Schwarzwald eine Wolkenwand aufzieht und wandernden Motorradfahrern ein Guss gerade noch erspart bleibt. Der kommt auf der Weiterfahrt: „In der Ferne ziehen vom Himmel dunkle Striche herab. Es schüttet und wie! Der Sturm bricht los, wild fährt er in die Bäume.“ Weiter heißt es: „Trotz des gewaltigen Regens fahren wir froher Laune weiter. Der Wind fängt sich in den Mänteln. Wie Eispfeile schießen die Tropfen ins Gesicht.“ Mit immer besserer Ausrüstung geht wohl auch etwas vom Erleben der Elemente verloren.
Keine saubere Trennlinie
Sauber ist keine Trennlinie zu ziehen zwischen faschistischer Ideologie und Motorrad-Geschichten. Stolz wird bei Tourenvorschlägen vermerkt, dass das Deutsche Reich größer geworden sei durch den Anschluss Österreichs und die Zerschlagung der Tschechoslowakei. Die „Motorrad“-Osterfahrt führt 1939 wie zwangsläufig in erobertes Land. Inzwischen geräumte Militär-Anlagen der Tschechen werden vorgeführt, um der geneigten Leserin ein wohliges Schaudern auf den Rücken zu zaubern. Keinen Gedanken verwendet der Autor darauf, wie Tschechen die Besetzung erleben mögen. Aus der Perspektive des Kampfes um Lebensraum, in dem sich die Nazis wähnten und die der Bericht einnimmt, wäre das auch eine überflüssige, ja schädliche Betrachtung.
„Fanatiker, für den das Glück der Erde im Sattel einer anständigen Maschine liegt“
Ein Reisebericht aus Spanien kommt nahezu ohne Kampfgeschehen aus. Der Autor, ein „Mann der Legion Condor“, wie beiläufig Erwähnung findet, wird präsentiert als „Fanatiker, für den das Glück der Erde im Sattel einer anständigen Maschine liegt“. Der Bericht ergeht sich in launiger Beschreibung von Land und Leuten und dem Lob seiner BMW R 12. Man könnte fast vergessen, dass die Wehrmacht mit der „Legion Condor“ den fanatischen Putschisten um Franco hilft, die Volksfrontregierung niederzukämpfen und die Schlagkraft der erstarkten Luftwaffe zu erproben. In diesem Umfeld wirken selbst unpolitische Sturm- und Vorfrühlingsberichte sowie Technikratgeber wie vergiftet. Spielen sie doch eine Normalität vor, die in Europa längst verloren gegangen ist.
Am 1. September 1939 überfällt Deutschland Polen. „Fast 1,5 Millionen Mann unterbrechen nur kurze Zeit ihren Vormarsch, um Kameraleuten des Reichspropagandaministeriums die Gelegenheit zu geben, die Öffnung der Zollschranken durch grimmig dreinblickende Soldaten zu filmen“, beschreibt Richard J. Evans in seinem Standardwerk „Das Dritte Reich – Krieg“ die Szene des Tages. In Polen stehen 1,3 Millionen Mann unter Waffen. Die hoch gerüstete deutsche Militärmaschine hat mit dem Gegner leichtes Spiel. Fast 1500 deutsche Panzer führen unterstützt von vier voll-motorisierten Infanterie-Divisionen den Angriff. Sie sind den entsprechenden polnischen Verbänden im Verhältnis 15 zu 1 überlegen. Polens Militär wird geschlagen, da besetzt noch die Sowjetunion Ostpolen. Am 6. Oktober enden die Kampfhandlungen. Deutschland feiert den Sieg im Blitzkrieg.
Nachruf mit Lüge
Die Zeitschrift „Motorrad“ steigt Mitte September in die Kriegsberichterstattung ein mit einer Notiz zum Tod einer Charge des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps NSKK. Der Nachruf kommt nicht ohne Lüge aus. Der Betrauerte sei im „Abwehrkampf gegen Polen“ gestorben. Das Titelblatt der ersten Oktoberausgabe zeigt ein Wehrmachtsmotorrad umringt von Soldaten. Das Straßenkreuz weist nach Warschau, noch 347 Kilometer. Das Ziel ist bald erreicht. Seite zwei zeigt Hitler in Danzig umjubelt. Der Chefredakteur der „Motorrad“ erinnert im Leitartikel an deutsche Opfer des Krieges. Sie würden Englands Konto belasten, orakelt er über offene Rechnungen.
Es wächst der Ehrgeiz der Journalisten. „Polnische Nächte“ sind Impressionen vom Vormarsch überschrieben. „Das sieht wunderschön aus, wenn so eine Fahrzeugkolonne durch eine verdunkelte Stadt fährt. Eine endlose Kette von kleinen blauen Lichtern kommt dir entgegen, und wenn du ihr nachschaust, siehst du nur noch wie aufgefädelt eine Kette von roten Glühwürmchen in die Nacht entschwinden.“ Der Autor zeigt sich „gepackt, von den Kolonnen stahlhelmbewehrter Männer“, an denen er vorbeizieht: „Links, Kerl, mehr links! Noch mehr!‘ Du atmest auf, es ist wieder mal gut gegangen, geradeso am Straßengraben vorbei.“
Es folgt die Beschreibung einer Jüdin, die schmutzig und elend von deutschen Soldaten Brot erbettle und bekomme. Die Hilfe wird als dümmlich denunziert. Die Frau verstecke das Brot unter ihrem Mantel, um weiter zu betteln. Da sehe man, wie die Juden zur ihrer führenden Rolle im polnischen Handel gekommen seien. „In der Ferne lecken gelbrote Flammen zum Himmel empor. An ein, zwei, drei, vier Stellen und ersterben wieder. Gespenstisch liegen am Wegesrand tote Pferde, umgeschlagene Panjewagen, dir weht der Wind den ersten Aasgeruch entgegen.“ Schließlich landet der Motorradfahrer auf einem Gutshof, auf dem am Tage zuvor „ein ganzer Haufen von Heckenschützen erschossen worden war.“ Nun herrsche Ruhe.
Ästhetik der Gewalt
Eine düstere Ästhetik der Gewalt zieht sich durch die Kriegsreportagen. Dramatisch wird aus dem Vollen geschöpft wird, das Elend bleibt abstrakt. Die eigenen Soldaten erscheinen heroisch, die Herausforderungen meisternd. Der Gegner wird als feige, hinterhältig und kopflos dargestellt. Das nächste Heft verabreicht eine noch stärkere Dosis. Ich zwinge mich zum Lesen, Vergnügen macht es nicht mehr.
Auf einem Feld liegen dreißig, vierzig Polen hingewürfelt.
„Ziegelsteine gibt es nur für den Herd und den Schornstein“, steht dort über polnische Häuser geschrieben. „Der Rest des Hauses ist aus Stroh und Holz. Klar, dass das ganze Dorf abkokelt, wenn so ein hinfälliger Katen Feuer gefangen hat. Unbeschreiblich elend hausen sie da. Die Betten sind so breit wie die Särge, denen die Deckel fehlen.“ Oder: „Auf einem Feld liegen dreißig, vierzig Polen hingewürfelt. …. C’est la guerre. So ist der Krieg. Du gewöhnst dich schnell daran.“ Auch damals hätte eine kritische Leserin merken können, welcher Vernichtungswille geweckt werden soll.
Warum schwieg mein Vater?
„Ich habe nie einen Menschen erschossen“, hatte Georg gesagt, wenn wir Kinder fragten. Sechs Jahre Krieg, und keinen Menschen erschossen. Kam damit ein Kradmelder durch, der zwischen Truppenteilen hin und her wieselte, Kurierfahrten übernahm? War am Ende der Vorsatz, nie einen Menschen zu erschießen, die Grenze, an die sich mein Vater geklammert hat? Eine Grenze, die Platz für vielerlei Verhalten ließ, aber ihm half, vor sich Achtung zu bewahren, in einer Welt, die darauf angelegt war, Menschen den Anstand auszutreiben. Ich weiß es nicht. Ich habe ihn nie als Nazi erlebt.
In Norwegen sei er eingesetzt gewesen, sagte er. Das beruhigte uns. Auch seine Erinnerungen an sein erstes Skifahren und den Familienanschluss, den er dort gefunden habe. Schließlich sei er nach Jugoslawien kommandiert worden, wo er bald in Gefangenschaft geriet. 1969 kam ich trampend von der jugoslawischen Küste zurück. Danach endete unser Gespräch über den Krieg. Ich hielt ihm vor, er sei über Jahre mit einer Verbrecherorganisation namens deutsche Wehrmacht durch die Lande gezogen. Er entgegnete, ich hätte keine Ahnung vom Leben und schon gar nicht vom Krieg. Heute würde ich sagen: wir hatten mit gewissen Abstrichen beide recht. Nur reden konnten wir nicht mehr darüber. Dabei hätten wir uns einiges zu sagen gehabt.
Georg ist vor fast zwanzig Jahren gestorben. Ich bin nun so alt wie er in meiner Erinnerung gelegentlich auftaucht. Wenn ich mit ihm reden könnte, so würde ich mehr zuhören wollen. Ja, auch, um ihm Gelegenheit zu geben, etwas loszuwerden. Ich versuche, auf anderen Wegen zu erfahren, was mein Vater in jener Zeit erlebt, gedacht, gehofft, getan hat. Deshalb besuche ich ein Widerstands-Museum in Oslo, deshalb blättere ich in vergilbten Motorrad-Magazinen, die er gelesen haben mag.
Vor zwei Jahren habe ich mich bei der Dienststelle für ehemalige Wehrmachtsangehörige nach Einsatzorten meines Vaters erkundigt. Im März kam die Antwort. Alles stimmte, mit einer Ergänzung: Von 26. August bis 4. November 1939 steht für ihn als Einsatzraum Oberschlesien/Polen vermerkt. Das hatte er uns nicht erzählt. Wollte er durch das Verschweigen seine Kinder schützen, oder sich? Oder hat er die wenigen Wochen nur nicht erwähnt?
Der Polenfeldzug war der schmutzige Auftakt für einen im Osten auf Völkermord angelegten Krieg. Vier Tage bevor sich Georg in Oberschlesien einzufinden hatte, hielt Reichskanzler Hitler vor führenden Generälen einen Vortrag: „Unsere Stärke ist die Schnelligkeit und unsere Brutalität. Dschingis Chan hat Millionen Frauen und Kinder in den Tod gejagt, bewusst und fröhlichen Herzens. Die Geschichte sieht in ihm nur den großen Staatsgründer. [...] Ich habe Befehl gegeben – und ich lasse jeden füsilieren (standrechtlich erschießen), der auch nur ein Wort der Kritik daran äußert ,dass das Kriegsziel … in der physischen Vernichtung des Gegners besteht. [...] Polen wird entvölkert und mit Deutschen besiedelt.“
Öffentlich wurde diese Rede nicht. Das Nazi-Regime hoffte noch auf einen Friedensschluss mit den Westmächten. Doch Hitlers Worte zeigen, in welcher Geisteshaltung der Polenfeldzug geführt wurde. 60000 Namen von polnischen Adligen, Intellektuellen und Priestern hatte die Gestapo gesammelt. Der deutsche Erfolg schuf den Raum für sieben Sondereinsatzgruppen, diese Mordliste hinter der Front abzuarbeiten.
Der Streit mit der Wehrmacht
In der Wehrmacht stieß das auf Kritik. Am 10. September notierte Generalstabschef Franz Halder: „Schweinereien hinter der Front“. „Bei Pultusk“, meldete ein Generalstabsoffizier, „sind 80 Juden durch die Truppe niedergeknallt in viehischer Weise. Kriegsgericht ist eingesetzt, ebenso gegen 2 Leute, die in Bromberg geplündert, ermordet, vergewaltigt haben.“ Der Oberbefehlshaber des Heeres, Walther von Brauchitsch, stauchte seine Offiziere zusammen wegen „Landsknechtsmanieren“ in der Truppe. General von Küchler befahl die Verhaftung und Entwaffnung einer Polizeieinheit, die Juden erschossen und jüdische Anwesen in Brand gesteckt hätten.
Am 20. September kommt es zu einer Aussprache zwischen Brauchitsch und Hitler. Das Resultat: Hitler ordnet einen Gnadenerlass für Übergriffe an. „Mit Heilsarmee-Methoden kann man keinen Krieg führen“, stellt er klar. Dieses rücksichtslose Denken fließt in die Kriegsreportagen ein. Am Ende dreht die Wehrmacht bei. Bis Ende 1939 werden 65000 nichtjüdische und jüdische Polen umgebracht. Mindestens 16000 von Ihnen sterben in formellen militärischen Erschießungen. Beim Einmarsch in die Sowjetunion läuft die Mordmaschine von Beginn an rund.
Zur Führung berufen?
Was mein Vater in Polen gemacht hat, wie er an den Ereignissen innerlich beteiligt war, darauf fehlt mir jeder Hinweis. Der in Berlin arbeitende US-Korrespondent William L. Shirer hielt in seinem Tagebuch fest: „Ich muss den Deutschen erst noch finden, selbst unter denen, die das Regime nicht mögen, der irgendetwas schlecht findet an der Zerstörung Polens durch Deutschland.“
Deutsche schauten auf Polen herab. „Polnische Wirtschaft“ galt als Synonym für Chaos und Unfähigkeit. Viele sahen die deutsche Nation zur Führung in Europa berufen und betrachteten den Osten als Raum für Kolonien. Die Ermordung von Volksdeutschen durch aufgebrachte Polen - von der NS-Propaganda noch haltlos übertrieben - schürte Hass.
Hunderttausende strömten in die eroberten Gebiete. Aus deutschen Siedlungsgebieten in Süd-Ost-Europa kamen sie „heim ins Reich“. Die Wehrmacht ließ sich für ihre Veteranen geraubte Bauernhöfe reservieren. Machte sich mein Vater Hoffnungen? Als jüngerer Bauernsohn aus kinderreicher Familie ging er er bei der Übergabe des elterlichen Hofes leer aus. Nun taten sich neue Chancen auf. Träume vom eigenen Hof, wenn es sie denn gegeben hat, waren nach dem Krieg kein Thema.
Das Einstimmen der Zeitschrift „Das Motorrad“ in die Kriegspropaganda kam nicht von Ungefähr. Im Frühjahr 1933 hatte der Chefredakteur der Zeitschrift, Paul Friedmann, wegen seiner jüdischen Abstammung die Geschäfte an Gustav Müller übergeben müssen. Das weithin unpolitische Blatt öffnete seine Spalten für Berichte der Motor-Hitler-Jugend und des NSKK. „Danach mussten die Redakteure erkennen, dass der scheinbar unpolitische Charakter dieses Gegenstands sie nicht vor dem wachsenden Druck des Regimes schützen konnte“, beschwichtigt eine Rückschau der „Motorrad“ aus dem Jahr 2014 auf die 111jährige Geschichte der Zeitschrift: „Gustav Müller und seine Kollegen hatten nicht die Kraft, dagegen aufzubegehren.“ Die Lektüre zeigt: Die Zeitschrift und ihr Chefredakteur heulten mit den Wölfen.
In den Kriegsjahren dünnt das Blatt aus. Motorradfahrer müssen ihre geliebten „Hirsche“, wie die Fahrzeuge damals in romantischer Anwandlung genannt werden, an die Wehrmacht abtreten. Sie tun es in froher Pflichterfüllung, wenn man der Zeitschrift Glauben schenkt. Wem das erspart bleibt, der darf sein Motorrad dennoch nicht bewegen. Nur Eigentümer mit behördlichem rotem Winkel können ihr Fahrzeug zu kriegswirtschaftlichen Zwecken nutzen. Da machen sich Berichte von opulenten Reisen schlecht. Der Motorrad-Journalismus nährt sich aus Erinnerungen.
Zögern des Reiseonkels
Einem Autor merkt man ein Zögern an, sich dem „großen Ganzen“ unterzuordnen, eine innere Souveränität, die ihm erlaubt, sich verpönter Anglizismen zu bedienen. Der „Reiseonkel“ Theo Rockenfeller berichtet im Juni 1940 von den Anfängen der Motorradtouristik in den Zwanzigern. Er erzählt von der Erfindung „des Wochenendes, zu Deutsch: ,Weekend‘. Es wurde ganz große Mode, am Sonnabend hinauszufahren und erst am Sonntagabend zurückzukehren. Ganz gerissene Zeitgenossen starteten schon am Donnerstag und kamen dafür schon am Dienstag wieder, so dass sie immerhin den Mittwoch ganz der Arbeit widmen konnten“, erinnert er an bessere Zeiten. An Jahre, in denen man das Rennen auf der britischen Insel Man besuchen konnte. Er schnallt ein Ungetüm von Fotokasten im Maße von 13 mal 18 Zentimeter auf den Tank, um Reise-Bilder mitzubringen. Im letzten Absatz leistet Rockenfeller sein Mindestmaß an Propaganda. „Nun muss der Reiseonkel nach dem Kriege seine vielen schönen Landkarten wegwerfen, da ja ein ganz neues Europa gestaltet wird.“ So geschah es auch, nur vermutlich anders als gedacht.
Berichte von der Front erscheinen nun regelmäßig. In ihnen wird das hohe Lied einfacher Soldaten gesungen, die unter widrigsten Bedingungen – bei minus 26 Grad mit einer Flasche Tee mit Rum versehen – stundenlang über vereiste und zerfurchte Pisten fahren. Oder einen durchlöcherten Reifen mit Leder ausstopfen, um Anschluss zu halten. Hier klingt das Lob des Durchhaltewillens an, das später zur Endlosschleife wird.
1943 stellt das Blatt sein Erscheinen ein
Zunächst wähnen sich die Deutschen fest auf der Siegerstrecke. Der Überfall auf Norwegen, Frankreich, Belgien und die Niederlande wird im Juni 1940 relativ überschaubar als „Tage der Entscheidung“ auf einer Doppelseite abgefeiert. 1943 stellt das Blatt sein Erscheinen ein.
Ein Partisan erzählt
Anfang März 2015. Im Kreuzberger Ausflugslokal „Jockel“ berichtet Radoslav „Braco“ Deric aus seiner Zeit als jugoslawischer Partisan. Eine Handvoll Berliner Wampen sind unter 90 Gästen. Deric war 16 Jahre alt, als er 1941 zur Waffe griff. Er muss jetzt neun Jahrzehnte zählen. Seine klare Stimme, seine geistige Präsenz beeindrucken. Deric erzählt von Entbehrungen des Kampfes, nächtelangen Fußmärschen, verdeckten Operationen und schließlich vom Erfolg in offener Schlacht um Belgrad. „Sie rannten wie die Hasen“, erinnert sich der alte Mann an den hart erkämpften Sieg über die Deutschen. Wir Zuhörer freuen uns mit ihm über den Erfolg der Hitler-Gegner. Wie würden wir leben, wenn dieser weltweite Kampf gescheitert wäre?
In offener Runde ermuntert der alte Mann, heikle Fragen zu stellen. Es tröpfelt, geht um den Umgang der kommunistischen Partisanen mit Anarchisten, um die Rolle der Frauen. Deric weiß genau, was er sagt und was nicht. In Serbien müssten sich die Partisanen heute rechtfertigen, erzählt er, ob sie nicht zu viele Menschen getötet hätten. Seine Antwort lässt Raum für Interpretationen: „Die wir vor uns hatten, waren bewaffnet!“ Er fügt hinzu: „Wir wussten, wenn wir sie nicht töten, würden sie im nächsten Monat wieder in Jugoslawien eindringen können.“ Von 175000 bis 200000 Kriegsgefangenen in Jugoslawien haben 85000 überlebt, nicht einmal jeder Zweite.
Existenzielles Glück
Mir geht durch den Kopf, dass der alte Mann auch Fragen hat, die er mit sich selbst ausmacht. Im Oktober 1943 kapitulierte Georg als Unteroffizier in Jugoslawien. Fünf Jahre später wird er aus der Gefangenschaft entlassen. Für ihn beginnt eine glücklichere Lebensphase. Er heiratet. Das Brautpaar wählt sich den Leitspruch: „Einer trage des anderen Last“. Beide setzen sieben Kinder in die Welt. Dass jugoslawische Verbände auch Gefangene gemacht haben und dass diese eine Chance hatten, zu überleben, ist für mich ein existenzielles Glück.
Quellen: Zeitschrift Motorrad, Heft 9/1939 bis 26/1941; Richard J. Evans: Das Dritte Reich – Krieg, dtv 2010; Motorradonline.de/ Wo wir herkommen; Wikipedia: Kriegsgefangene des II. Weltkriegs.
Der Artikel ist auch in der Ausgabe 3 2015 der Zeitschrift des Verbandes der Motorradclubs Kuhle Wampe 'MEGAPHON' erschienen.