Wie smart ist unsere Freiheit?

Mit dem Motorrad durch die Alpen

Das Buch ist eine weitere Gesellschaftskritik des Sozialpsychologen Harald Welzer. Nach “Selbst denken - eine Anleitung zum Widerstand” ist 'Die smarte Diktatur' eine gelungene Analyse dessen, was wir als Fortschritt empfinden, dessen, was smart daherkommt und doch ziemlich dumm ist. Oder dumm macht.

Mit bisweilen ausgeprägtem Sarkasmus seziert Harald Welzer Phänomene wie das Shaming in sozialen Netzwerken, das Selfloggertum und weitere Datenschutzquälereien. Dabei zeigt er anhand eindringlicher Beispiele, Zahlen und Fakten auf, wie schnell aus Fehltritten in der Onlinewelt ganz reale Nachteile in der Offline-Welt entstehen. Wie jedes digitale Handeln sich auf die Umwelt auswirkt. Wie mächtige Unternehmen und Autokratien mithilfe der sogenannten smarten Technologie immer machtvoller, unethischer, totalitärer werden. Wie Geheimdienste ebenso wie kommerzielle Organisationen unvorstellbar große Datenhaufen sammeln und speichern. Wie diese genutzt werden um potenzielle Käufer zu beeinflussen und um potenzielle Wählerinnen zu kontrollieren. Wie Menschen nur allzu bereitwillig ihre Persönlichkeitsrechte und damit ihre Freiheit verschachern für ein wenig mehr Bequemlichkeit hier und vermeintlich mehr Schnelligkeit dort. Wie die Grundrechte von Rechtsstaatlichkeit systematisch unterminiert werden. Allen notorischen So-ist-das-heute-eben-und-ich-hab-doch-nichts-zu-verbergen-Achselzuckern erklärt Harald Welzer außerdem, warum Freiheit und Privatheit so wichtig sind.

Nicht umsonst betitelt Harald Welzer sein Buch die smarte Diktatur. Durch das gesamte Werk hindurch zieht Welzer beängstigende Vergleiche zwischen einem totalitären Herrschaftssystem und dem Diktat der smarten Technologie, unter dem wir bereits heute leben und dem sich die Menschen absolut ergeben unterwerfen. Die „Kombination der Überwachungs- und Ausforschungsbedürfnisse von Geheimdiensten mit der uferlosen Datensammelwut von Unternehmen aus kommerziellen Gründen“ (S. 35) ist deshalb unheilvoll, weil sich die informationelle Macht derjenigen, die überwachen, stets vergrößert, während gleichzeitig die Manipulierbarkeit der Überwachten rasant zunimmt. Denn einmal gespeicherte Daten können stets abgerufen werden; welche Bedingungen dazu erforderlich sind, das kann sich täglich ändern. Fulminante Ereignisse wie 9/11 haben die Dauerausforschung aller BürgerInnen legitimiert und darüber hinaus weitere grundrechtliche Standards ausgehebelt, z.B. das Inhaftieren von Personen ohne richterlichen Beschluss. Dabei haben es NSA und Konsorten so einfach wie noch nie, da Bürgerinnen und Bürger in Form ihres iPhones für ihre eigene Überwachungseinheit auch noch Geld ausgeben. Man kann sich vorstellen, welche Datensammelmöglichkeiten sich der Konzern Apple noch so offen hält, wenn gewisse Funktionen, wie z.B. das Zählen der Schritte, heute bereits nicht mehr abzuschalten sind.

Während Geheimdienste früher auf sehr aufwändige Art und Weise ihre Daten durch Spitzel, Wanzen, Blockwarte etc. erheben mussten, ist es der Internetindustrie heutzutage gelungen, „die Leute für ihre eigene Entmächtigung auch noch bezahlen zu lassen.“ (S. 133). Denn der Mensch konsumiert gern, kauft online und verwendet Apps. Und liefert hierfür gern seine Daten, welche dann wiederum für maßgeschneiderte Angebote verwendet werden. Facebook, Google und Co. nutzen hierfür jedes Like, jeden Online-Kauf, jeder Tweet, jede Suchanfrage. 98 % der Ergebnisse des Spionagesystems Prism stammen übrigens ebenfalls von Yahoo, Google und Microsoft.

Noch leben wir hier in einer Demokratie, die unsere Rechte schützt. Was aber ist, wenn sich das morgen ändert? Und wie verhält es sich in Ländern, wo smarte Technologien in Herrschaftsformen angewendet werden, welche die Würde des Menschen keineswegs unangetastet lassen? Harald Welzer nennt hier das Beispiel Chinas, wo ein neues „Soziales Kreditsystem“ neue Möglichkeiten der Disziplinierung schafft: Das System erfasst Daten von sozialen Netzwerken, Banken und Unternehmen und vergibt dementsprechende Punkte. Dabei sind das Posten parteikonformer Meinungen, das Einkaufen der „richtigen“ Sachen beim „richtigen“ Versandhandel (Alibaba) und gute Kreditwürdigkeit förderlich; Verkehrssünden, Kritik und sogar das Fehlverhalten der eigenen Freunde hingegen lässt die Punkteskala sinken. Es werden Belohnungen für Wohlverhalten vergeben. Zunächst ist das Kreditsystem freiwillig, ab 2020 jedoch soll es verbindlich werden.

Harald Welzer macht acht „Übergangszonen ins Totalitäre“ aus, die heute schon den Übergang von Demokratie ins Totalitäre einläuten. Hierfür zieht der Sozialpsychologe gesellschaftliche, sozialpsychologische, marktwirtschaftliche Erkenntnisse heran.

Im Gegensatz zu der Mehrheit schwarzmalerischer Gesellschaftskritiker belässt es Harald Welzer nicht beim mahnenden Zeigefinger, sondern versucht sich in einer Anleitung zum Widerstand wie bereits in „Selbst denken“. Viel Neues ist nicht dabei und dem interessierten Leser vermutlich bekannt. Auch wenn vieles überraschend einfach oder evident klingt: Widerstand, insbesondere gegen die smarte Diktatur und für die Freiheit, ist praktisch. Und offline.

Das Buch ist lesenswert, sehr unterhaltsam geschrieben, hervorragend recherchiert und vor interessanten Gedankengängen nur so strotzend. An uns, gute WiderständlerInnen zu werden und uns nicht weiter fremdbestimmen zu lassen!

KMK

Zitate aus Welzer Interviews:

"Die Macht besteht darin, dass ich die Menschen vereinzele. Ich krieg nur noch das, von dem der Algorithmus weiß, und nur damit werde ich gefüttert. In so einer Welt machen wir keine Erfahrungen mehr aus Zufall. Und das ist eine Steuerungsmöglichkeit: Wenn ich da politische Informationen so gezielt vergebe, kann ich unglaublich manipulieren. So funktioniert Demokratie nicht."[1]

 

[…] dass die klassische Diktatur und das, was ich "smarte Diktatur" nenne - genau am selben Punkt ansetzen, nämlich am Individuum, an seiner möglichst hohen Transparenz und an seiner Steuerbarkeit.“[2]

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