Die Rückkehr des Kalifats
Napoleonis Thesen erscheinen zunächst gewagt, werden aber Kenner des Nahen Ostens nicht verwundern. Sie veröffentlicht mit ihrem Buch einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten – und ein Gegenentwurf zu den im Westen gängigen Stereotypen über den radikalen Islam.
Napoleoni erklärt das Kalifat unter Hinzunahme von seriösen Quellen und Augenzeugenberichten. Ihre Sicht ist nicht eurozentristisch, sie nutz dabei auch arabische, sunnitische und moslemische Quellen. Ihre wissenschaftliche Analyse zeigt, wie sich der Islamische Staat u.a. aus Al-Qaida entwickelt hat, sich nun aber zu einem Protostaat transformiert. Das Buch versucht Erklärungen und Ansätze zu geben, sieht trotz seiner Aktualität die bis an 2015 heranreicht Geschehnisse voraus und schlägt vor allem eine nicht kriegerische Lösung des Terrors gegen Andersdenkende vor.
Angesichts der Geschehnisse von Paris (November 2015) erscheint das nicht einfach, doch aus ihrer wissenschaftlich-journalistischen Perspektive durchaus richtig.
Francesca Borri, teilweise die einzige europäische Journalistin in Syrien, dient der Autorin oft als Informationsquelle vor Ort. Borri schreibt darüber, wie sich der IS vor Ort einen großen Pragmatismus an den Tag legt, wenn er die sunnitische Bevölkerung vor Assats Truppen schützt, ein Gesundheitssystem aufbaut oder für sauberes Trinkwasser sorgt. Auch hier entscheidet er sich von al-Quaida, die solche Interessen nicht verfolgten. Weitere Ziele des IS Kalifats sein die Eroberung der Gebiete des alten Kalifats von Bagdad, aber auch Jordanien und Israel zu annektieren um eine solche Einheit wieder zu errichten.
Napoleoni will nicht zukünftige Entwicklungen vorhersehen, wie sie selbst schreibt, sondern Schlüsselfragen zum Wesen und zu den Zielen des IS und des Kalifats beantworten. Sie sieht im Kalifat eine Neuverpackung einer religiös begründeten Vergangenheit in eine moderne Verfassung und darin ein wiederkehrende Phänomen der heutigen Zeit.
Daher werden in ihrem Buch vielleicht sogar erstmalig andere (arabische) Perspektiven auf den IS eröffnet, die helfen, den zwischenzeitlichen Erfolg der Kämpfer und Staatengründer zu erklären. Das hatten einheimische Journalisten bisher nicht geschafft, stattdessen unisono kalte Kriegsbotschaften und fast ausschließlich eurozentristisches Denken verbreitet. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Loretta Napoleoni ist kein IS Freund, sie beschäftigt sich aber professionell und wissenschaftlich mit dem Wesen des IS und lässt dabei auch nicht wahhabitische und arabische Gesichtspunkte außer Acht. Mittlerweile, 2016 ist man auch hierzulande etwas weiter und sieht ein, dass rein militärisches Vorgehen (Luftschläge, Stellvertreterkrieg) den Menschen vor Ort und den ungeminderten Flüchtlingsstrom nicht eindämmen wird.
Napoleoni bestätigt, das Katar, Kuweit und Saudi Arabien bisher eine Reihe bewaffneter Gruppen finanziert haben, um in Syrien einen Regimewechsel zu erwirken. Der IS war nur eine davon. Sonderlich Amerika-freundlich fällt ihre Kritik nicht aus: „Die Vereinigten Staaten befinden sich […] seit einem halben Jahrhundert, fast permanent im Krieg […] um „die Demokratie zu verbreiten“ der […] über die Aufstandsbekämpfung zum Stellvertreterkrieg geht und schließlich von vorne anfängt.“ Sie geht dabei auf die Schlappe im Irak (Mossul, Falludscha) ein und analysiert die höheren Ziele der Kriegführenden Mächte: Errichtung eines zeitgenössischen salafistischen Staates contra Verbreitung von Demokratie mit einer Pointierung von Marktbeherrschung von westlichen Konzernen. Napoleoni versucht eine Antwort auf die Frage, warum der IS mehr Erfolg hat, als der Arabische Frühling und kommt zu verschiedenen Ergebnissen: Dass der IS paradoxerweise ein modernes Phänomen ist, das extrem anpassungsfähig und multipolar ist. Sie beschreibt auch die Crux der Gemengelage um ein einheitliches UN-Mandat, das ihr wegen des Vetos von Russland und China unwahrscheinlich erscheint. Ereignisse wie die von Paris, der Abschuss des russischen Urlaubsfliegers Airbus 321 über dem Sinai und der Hinrichtung von Fan Jinghui und des Norwegers Ole Johan Grimsgaard-Ofstad waren zur Drucklegung noch nicht passiert. Ein koordiniertes Vorgehen mit UN Mandat gibt es aber auch Anfang 2016 noch nicht.
Fazit: Napoleoni kommt vorerst zu dem Schluss, dass man entsprechend der Vorgeschichte an dies neue Macht mit anderen Mitteln als dem Krieg herantreten müsse, was sie auch im ttt Interview (ARD) deutlich macht. Krieg und Besetzung führe zu einer weiteren Kolonialisierung. ttt: Das Buch ist eine Zumutung, aber auch ein wichtiger Beitrag zur öffentlichen Diskussion.
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